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Violence against children: Why prevention in Germany already fails due to the system
Published on September 17, 2025
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„Die Kinder haben Verletzungen durch glühende Zigaretten, auch großflächige Verbrennungen und Verbrühungen. Sie haben Bisswunden, Würgemale, werden eingesperrt, essen vor Hunger Tapeten und trinken aus Kloschüsseln Wasser. Säuglinge werden gegen die Wand geworfen, volle Windeln werden zur Strafe über den Kopf gezogen“. Es sind Schilderungen, die schier fassungslos machen. Rainer Rettinger, Geschäftsführer des Deutschen Kindervereins, kennt nicht nur die vielen schrecklichen Gesichter, die häusliche Gewalt gegen Kinder und Kindesmisshandlung zeigen, sondern auch die Auslöser.
„In zahlreichen Fällen befinden sich Familien in hochgradig belastenden Lebenslagen. Bei einem Teil der Eltern liegen eigene traumatische Kindheitserfahrungen vor, die ohne gezielte Maßnahmen eine Aufrechterhaltung generationsübergreifende Gewaltmuster begünstigen“, erzählt Rettinger. Psychische Erkrankungen oder eine ausgeprägte Überforderung der Eltern stellen zudem weitere potenzielle Risikofaktoren für innerfamiliäre Gewalt dar. Akute Krisen- und Konfliktsituationen – beispielsweise Trennungen, Arbeitslosigkeit oder vergleichbare Lebensereignisse – wirken als zusätzliche Belastungsfaktoren und erhöhen das Risiko für das Auftreten häuslicher Gewalt gegenüber Kindern signifikant.
Alleine im Jahr 2022 haben Jugendämter deutschlandweit über 60.000 Kindeswohlgefährdungen durch Vernachlässigung, sexuelle Gewalt und psychische oder körperliche Misshandlung festgestellt. Der höchste Stand seit Einführung der Statistik zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung im Jahr 2012.
Gravierende Folgen für das spätere Leben
Häusliche Gewalt kann bei Kindern zu tiefgreifenden psychischen, emotionalen und sozialen Beeinträchtigungen führen, die in vielen Fällen lebenslang bestehen bleiben. Diese negativen Auswirkungen treten nicht ausschließlich bei direkter Misshandlung auf, „denn bereits das Miterleben von Gewalt zwischen den Eltern stellt insbesondere im frühen Kindesalter einen erheblichen traumatisierenden Faktor dar. Kinder verfügen häufig nicht über adäquate Bewältigungsstrategien und neigen dazu, Schuldgefühle sowie ein Gefühl der Hilflosigkeit zu entwickeln“, erklärt Rettinger.
Die Folgen sind verheerend. Das Erleben häuslicher Gewalt kann nämlich kognitive Funktionen wie die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen und die soziale Entwicklung hemmen. „Häufig treten psychosomatische Symptome wie Schlafstörungen und Angststörungen auf. Langfristig weisen Betroffene ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Suchterkrankungen und selbstschädigendem Verhalten auf“, so Rettinger. Zusätzlich können aber ebenso Schwierigkeiten beim Aufbau und der Aufrechterhaltung stabiler sozialer Bindungen bestehen. „Epidemiologische Befunde legen nahe, dass Personen, die in einem von Gewalt geprägten Umfeld aufwachsen, in späteren Lebensphasen überproportional häufig auf Gewalt als Konfliktlösungsstrategie zurückgreifen“, sagt Rettinger.
Das schulische Umfeld leidet mit
Sind Kinder von häuslicher Gewalt betroffen, so stellt sich auch die Frage, inwiefern dies das soziale Verhalten von Kindern im Schulumfeld beeinflusst. Wird das betroffene Kind selbst gewalttätig gegenüber anderen Kindern? Ja, sagt Rebekka Schuppert, Fachreferentin für Kinderschutz beim Kinderschutzbund. „Manche Kinder übertragen das, was sie zu Hause erleben, auf Gleichaltrige: Sie setzen Gewalt als Konfliktlösung ein.“
Allerdings reagieren nicht alle Kinder gleich, was auch eine Umkehr der emotionalen Verarbeitung bedeutet. „Andere Kinder hingegen verhalten sich unauffällig oder entwickeln Ängste“, sagt Schuppert. Die Schule spiele aber beim Kinderschutz immer eine zentrale Rolle, denn Lehrerinnen und Sozialarbeiter seien meist die ersten, die Auffälligkeiten wahrnehmen. „Damit Schulen wirksam helfen können, brauchen wir allerdings geschulte Fachkräfte, Präventionsprogramme und enge Kooperation mit der Jugendhilfe. Leider haben viele Schulen aber nicht die nötigen Ressourcen, um dieser Aufgabe gerecht zu werden“, so Schuppert.
Gesetzgebung braucht Update, Urteile sind zu lasch
Sind gesetzliche Maßnahmen in Deutschland eigentlich entsprechend angepasst, was das Strafmaß bei Gewaltanwendung gegen Kinder betrifft oder sind Versäumnisse zu Lasten der Kinder auszumachen? „Trotz verschärfter Gesetze kommt es immer wieder zu Urteilen, bei denen die Strafen für Gewalt und sexuellen Missbrauch von Kindern erschreckend, für mich gefühlt, milde ausfallen“, sagt Rettinger.
Für viele Betroffene und ihre Angehörigen sei es kaum nachvollziehbar, dass Taten, die das Leben eines Kindes dauerhaft prägen und seine Unversehrtheit tief verletzen, mitunter nur zu geringen Freiheitsstrafen oder sogar Bewährungsstrafen führen. „Solche Urteile vermitteln den Eindruck, dass das Leid der Kinder und die Schwere der Tat nicht in vollem Umfang anerkannt werden. Sie lassen Zweifel daran aufkommen, ob das Strafrecht in seiner praktischen Anwendung dem Schutz der Schwächsten in unserer Gesellschaft wirklich gerecht wird“, so Rettinger.
Schützt die Politik Kinder in Deutschland also in ausreichendem Maße? Der Geschäftsführer des Deutschen Kindervereins sieht eine Menge an Aufholbedarf und Verbesserungspotenzial. „In Nordrhein-Westfalen existiert als bislang einzigem Bundesland ein eigenes Landeskinderschutzgesetz. Es wäre wünschenswert, wenn eine solche gesetzliche Grundlage in jedem Bundesland geschaffen würde, um den Schutz von Kindern in allen Regionen gleichermaßen verbindlich zu verankern“, sagt Rettinger.
Des Weiteren existiere auf Bundesebene zwar das Amt der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, jedoch fehle ein staatlich legitimierter Fürsprecher, der sich explizit und umfassend für den Schutz vor körperlicher und seelischer Gewalt sowie vor Vernachlässigung einsetzt. „Diese Lücke im institutionellen Kinderschutz schwächt den gesamtgesellschaftlichen Anspruch, Kinder konsequent vor allen Formen von Gewalt zu bewahren“, klagt Rettinger weiter.
Kinder haben Rechte, von denen viele nichts wissen
Geht es nach dem Deutschen Kinderschutzverein, so werden Kinder noch immer zu wenig über ihre eigenen Rechte aufgeklärt. Oftmals seien diese Rechte sogar selbst pädagogischen Fachkräften in Schulen und Kindertagesstätten nicht oder kaum bekannt. Dabei sei es gerade die Enttabuisierung der Lebenswirklichkeit von Gewalt betroffener Kinder als Teil des Bildungsauftrages zu verstehen, der den „Kindern bei der Einordnung entsprechender Erlebnisse unterstützt und ihnen Wege zum Schutz und zur Verarbeitung eröffnet.“
So habe ein Kind beispielsweise das Recht auf Inobhutnahme ohne Angaben von Gründen (§ 42SGB 8). „Dieser Paragraf gibt Kindern und Jugendlichen ein unbedingtes subjektives Recht, sich jederzeit in den Schutz des Jugendamts zu begeben. Das Jugendamt darf eine Inobhutnahme in solchen Fällen nicht verweigern“, erklärt Rettinger.
Schutz von Kindern ist in Deutschland gefährdet
In einer Elternstudie, die 2016 von Uicef durchgeführt wurde, hielten fast die Hälfte der Befragten einen Klaps auf den Po für ein erlaubtes Erziehungsmittel. Etwa 17 Prozent der Befragten sagten dies über eine leichte Ohrfeige, 2 Prozent über eine schallende Ohrfeige, 0,1 Prozent über eine Tracht Prügel mit Blutergüssen, 0,4 Prozent über das Schlagen mit einem Stock auf den Po beziehungsweise 0,2 Prozent über das Schlagen mit Gegenständen.
Wenn Kinder im eigenen Elternhaus nicht sicher sind, so brauchen sie Hilfe von außerhalb. Dies können Angehörige, Nachbarn oder sonstige Zeugen der Misshandlung des Kindes sein. „Jeder kann und sollte bei Verdacht eine Gefährdungsmeldung beim Jugendamt machen. Man muss kein sicheres Wissen haben – schon ein begründeter Verdacht reicht aus“, sagt Schuppert vom Kinderschutzbund. So könnten Fachkräfte schließlich die Situation prüfen und das Kind effektiv schützen.
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Einer destruktiven, passiven Haltung zu verfallen oder gar zu denken, dass ohnehin nichts passieren würde, weil Behörden zu nachlässig seien, hilft nur den Tätern, aber nicht den Opfern. Zivilcourage ist deshalb unabdingbar. „Das Jugendamt kann nur handeln, wenn es von Gewalt erfährt. Deshalb ist es so wichtig, dass Hinweise gegeben werden“, sagt Schuppert.
Von „Wegschauen“ der Behörden im Sinne von absichtlicher Untätigkeit könne aber keinesfalls gesprochen werden, da die Fachkräfte in den Jugendämtern laut der Fachreferentin für Kinderschutz enorm viel leisten würden. Allerdings sehe man vonseiten des Kinderschutzbundes auch enorme strukturelle Probleme. „Ein großer Teil der Jugendämter berichtet von Überlastung und Fachkräftemangel, Plätze für Inobhutnahmen sind vielerorts knapp. Diese Engpässe gefährden natürlich den Schutz von Kindern in Deutschland“, so Schuppert.
Markus Keimel ist freier Journalist, Künstler und Autor aus Österreich.
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